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Gebrauchslyrik
Monika Lustig
FÜR EINE NEUE GEBRAUCHSLYRIK in heutiger Zeit.
Dass Lyrik therapeutische Wirkung entfalten kann, ist nicht erst seit Dr. Erich Kästners Lyrischer Hausapotheke bekannt; ein Teil seiner Verse, abgeschrieben und illustriert von einer jungen Jüdin im Warschauer Ghetto, wurde zum Überlebensbuch für ihren Marcel, eben Reich-Ranicki. Doch es sind nicht nur die Inhalte der Gedichte, sondern ihre Form und Gebundenheit, die Kraft geben, stärken, auch die unerträglichste Zeit im Angesicht des Todes vertreiben, zum Zauberspruch werden. Darüber gibt die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger in ihrem weiter leben (nach Auschwitz) Auskunft. Dem destruktiven Wahnsinn nicht nachgeben, den Verstand nicht verlieren. Stattdessen Reime machen.
Heute werden in unseren Breitengraden Dichterinnen und Dichter mit einer lange Zeit vergessenen Aufmerksamkeit geehrt. Ein blaues Band soll gewoben werden, um Europa zusammenzuhalten. Doch diejenigen, die dieses Staatenagglomerat ohnehin als FEST GEMAUERT erleben, es gleichwohl schaffen, unter Zurücklassung von allem, sich hierher, in eine vorgestellte Sicherheit zu retten, die schlagen mit ihren ungehörten Stimmen, in ihren Sprachen, die das Verlorene bergen sollen, ganz neue Töne in hiesiger Poesie-Landschaft an. Und plötzlich wird klar – das Ver-DICHTETE, das FESTE-FORMGEWORDENE kann uns allen ein Werkzeug sein, auch nur eines, an dem sich festhalten. Tag um Tag.