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"Atmen und Erzählen waren praktisch dasselbe": Fabio Stassi über die Bedeutung der Ursprünge, das Verhältnis von Fiktion und Realität und Rom als Sehnsuchtsort
Tanti auguri (nachträglich) zu deinem 60. Geburtstag, lieber Fabio! Willkommene Gelegenheit zu einer Bestandsaufnahme, nach der – fußballtechnisch gesprochen – Halbzeit, oder? Willst du die Reflektoren auf Deine Anfänge richten?
Fabio Stassi: Danke für die Glückwünsche! Ich war noch nie gut im Bilanz-Ziehen und vor allem nicht im Addieren. Die Jahre haben mich gelehrt, das zu zählen, was mir fehlt. Doch du hast recht: Ich befinde mich jetzt in einer Art Intervall und versuche zu begreifen, wie die Dinge gelaufen sind. Und meine Hoffnung ist: Das Leben hält noch eine Spielzeitverlängerung bereit.
In die Vergangenheit blickend kann ich dir sagen (wir stehen immer vis-à-vis unserer Vergangenheit, die Zukunft kennen wir ja nicht, in Wirklichkeit haben wir sie nämlich im Rücken): Ich bin Sohn sizilianischer Einwanderer, die Familie zog kurz vor meiner Geburt, in den fünfziger Jahren, nach Rom. Ich bin also nicht auf meiner Herkunftsinsel aufgewachsen. Und dennoch oder gerade deswegen ist Sizilien so etwas wie meine innere Landschaft geworden. Sie ist akustischer Effekt, Klang, Silbensequenz, und vor allem eine Sprache. Es ist nämlich nicht ausschlaggebend, an welchem Ort du geboren bist – von entscheidender Bedeutung ist, in welcher Sprache du großgezogen wurdest. Das ist eine meiner elementaren Gewissheiten.
Also ich bin im sizilianischen Dialekt herangewachsen. Jedes Mal, wenn ich den Akzent, die Kadenz, jene typische Aussprache der Vokale höre, ist mir das eine sehr vertraute Musik, aus der sogleich und instinktiv der Klang meiner Kindheit hervortönt. Und die Sprache der Kindheit ist die wichtigste von allen. In ihr vernimmt man zum ersten Mal, wie die Welt ringsum benannt wird; sie ist wie das Vergrößerungsglas, durch das man die Welt entdeckt und sie weiterhin, das ganze Leben lang, beobachtet.
Gab es eine bestimmte Person, die dir diese Art von „Initiation“ hat angedeihen lassen?
Die ersten Silben, auf denen ich mich aufgerichtet habe und auf eigenen Beinchen zu stehen kam, losgelaufen bin … die hat mir meine Großmutter beigebracht. Meine Eltern waren berufstätig, und so verbrachte ich die ganze Zeit mit ihr. Ich erinnere viele einzelne Gegenstände unter dem Brennglas des Gedächtnisses: eine Flasche Anisschnaps auf der Wachstuchtischdecke; die Knoblauchzöpfe in der Küche, die Namen der Farben, der Tiere, der Geruch von Olivenöl und Zimt in der Vorratskammer, ein Esszimmer voller Frauen; ich denke an meine Großmutter, sehe sie vor mir mit ihren verformten Füßen, habe ihre Stimme im Ohr… Und erinnere eine Art Halsband Marke Eigenbau, mit dem sie mich an der Leine hielt, weil sie Angst hatte, mich auf der Straße auf dem Weg zum Markt zu verlieren, schlimmer noch, dass ich abhauen würde. Sie hat ihre Kindheit und Jugend in Buenos Aires und Montevideo verbracht, mein Großvater war in Tunis geboren, aber das Sizilianische war ihrer beider wahre Heimat.
Meine Großmutter hat mir eine spanische und eine afrikanische Traurigkeit mit auf den Weg gegeben; sie hat mir eine natürliche Rebellion gegen die mörderische Ordnung der Welt beigebracht. Von ihr stammt die Lektion, dass man sich selbst großziehen muss, immer wieder, und neu zur Welt kommen muss. Denn jeder Sohn, jede Tochter von Auswanderern ist gleichsam unterwegs, auf Wanderschaft geboren.
Die ersten Erzählungen, denen ich gelauscht habe, waren allesamt Geschichten übers Auswandern. Meine Familie stammte aus bescheidenen Verhältnissen, sie arbeiteten in Berufen wie Schuster, Hausmeister, Telegrammbriefträger. Migration und die Erfahrungen als Ausgewanderte waren das musikalische Thema jedweden Ereignisses, die Tonalität, in der sich alle Abenteuer verzweigten, denn lesen konnten sie nicht, schreiben nur schlecht, sie machten jede Menge Grammatikfehler, aber sie waren Seeleute gewesen, und Geigenspieler und sie hatten Krieg und Elend überlebt.
Auch meine anderen Großeltern waren Sizilianer, auch sie waren nach Rom gezogen. Ihre Vorfahren stammten aus ganz fernen Gegenden: Karthago, Catalyna, Albanien, einer wohnte in Piana dei Greci, wie bis zum Zweiten Weltkrieg das heutige Piana degli Albanesi hieß, in dem noch immer die Mehrheit der Bewohner Arbëresh ist; katalanische, afrikanische und Arbëresh-Begriffe – der Dialekt der im Mittelalter nach Italien geflüchteten Albaner – sind im Wortschatz meines Vaters und meinem lebendig geblieben.
Also mit einem Wort, man erzählte von all dem, was verlorengegangen war. Und die Worte waren der Lebensatem, die Geschichten waren ausgestoßene Atemluft, die in der Luft perlte … Der warmherzigste und wohlwollende Ausdruck für ein Kind war: Sciatu meu, mein Odem, mein Lebenshauch. Atmen und Erzählen waren praktisch ein und dasselbe. Vielleicht sind aus diesem Grund Literatur und Leben für mich deckungsgleich.
Das Rom, in dem die Abenteuer des Detektivs wider Willen, Vince Corso, von Beruf Lehrer, Bibliotherapeut aus Berufung, spielen … welche Rolle nimmt es in deinem Leben ein? Hat es sich verändert, gar drastische Wechselfälle erlebt? Ist Rom dein Beobachterposten der Welt?
Das Rom, das ich in den Romanen um Vince Corso schildere, ist eine reale Stadt – jeder ihrer Winkel, jedes Trottoir, jede Gasse ist authentisch. Und doch ist es eine Stadt, vermengt mit anderen Städten, die ich in der Literatur erlebt habe. Mein Rom ähnelt dem Buenos Aires meiner Großmutter und dem vieler argentinischer Schriftsteller, eine Stadt, in der es immer regnet, und in der immer etwas Bedrohliches, eine Gefahr in der Luft liegt. Es ist ein Rom, das hart und bitter geworden ist, gemäß den Zeiten, die wir erleben. Im Stadtviertel Esquilino habe ich – in anderen Sprachen – die Stimmen meiner Kindheit wiedergefunden. Aber der Kontext hat sich schwer verändert. Deshalb ist auch Rom für mich eine Figur der Sehnsucht, die Stadt meiner Jugend, und sie fehlt mir. Obwohl ich täglich der Arbeit wegen dorthin zurückkehre, habe ich sie verloren. Auch Rom ist eine Geisterinsel geworden, die mehr der Erinnerung und der Traumsphäre angehört als der Gegenwart. In der Gegenwart, in dieser hic et nunc, erkenne ich sie zuweilen nicht einmal wieder.
Kürzlich hast du anlässlich der Premiere deines Romans Ich töte wen ich will eine Lesereise unternommen, Ausgang war Wien, dann ging es weiter durch Deutschland. Willst du uns einige deiner Eindrücke verraten, von den skurrilen bis hin zu den schönsten, falls es diese überhaupt gegeben hat?
Das war für mich eine bedeutsame Reise, die in mir neue Ideen hat keimen lassen … ich denke sogar daran, Vince Corso auf eine Bibliotherapie-Reise durch die deutschen Städte zu schicken, um aus seinem Blickwinkel schreiben zu können. Ich hätte gern, dass er in dem Fall ermittelt, der für ihn das größte Verbrechen darstellt: die Bücherverbrennung unter den Nazis. Der stärkste Eindruck, den diese Reise bei mir hinterlassen hat, ist tatsächlich an den Zweiten Weltkrieg gekoppelt, vielleicht weil das Geräusch der Bomben in der Ukraine mir diesen Krieg plötzlich wieder nahegebracht hat. Schaue ich mir den Wiederaufbau in Städten wie Stuttgart, Köln, auch in anderen an, meine ich zu ermessen, was der Krieg, jeder Krieg, auf immer auslöscht. Die Identität, das Gedächtnis einer Stadt. Und kein Wiederaufbau wird das jemals wiederherstellen können. Abgesehen vom bedrohlichen Lärm unserer Zeit, habe ich auch in Deutschland eine vertraute Empathie gefunden, außerhalb des Kanons und jeder Formalität, jenes Gemeinschaftsgefühl als Grundkonstante des Lebens, das vielleicht der beste Part unseres Europäer-Seins ist.
Wir leben in apokalyptischen Zeiten. Die Grenzlinie zwischen Fiktion und Realität ist aufgehoben, hat sich in puren Horror aufgelöst. Hält das Genre des Krimis, des Noirs noch immer seine spezifischen Momente der Katharsis bereit für den Leser?
In der Zeit vor dem Ausbruch der Pandemie war ich so weit, keine Grenze mehr zwischen Literatur und Realität zu erkennen, um mit den Worten von Leonardo Sciascia zu sprechen. Alles schien mir radikal vermischt, die Wirklichkeit hatte sich offenbar der Fiktion unterworfen, zumindest herrschte zwischen den beiden Polen kein Antagonismus mehr. Ich denke auch an Filme wie Truman Show oder eben an die Kommerzialisierung des Genres Krimi und Detektivroman. Die Fiktion war zum Propagandainstrument eines ganzen Wirtschaftssystems geworden; im Übrigen, und Sciascia wusste das nur allzu gut, gründet jede Macht auf einer Lüge. Doch dann brach das Gleichgewicht weg, es war wie ein Erwachen nach jahrzehntelangem Schlaf. Und genau diese Fiktion, die von der herrschenden Macht gelenkt wird, versucht die Literatur zu demaskieren, und zwar mit einer zweiten Fiktion mit entgegengesetztem Vorzeichen. In dieser Hinsicht sind auch der Detektivroman, der Krimi keine Vereinfachungen der Wirklichkeit, auch keine Flucht, noch ihre Trugbilder, natürlich unter der Voraussetzung einer radikalen Protesthaltung.
Mit dem einseitigen Briefwechsel mit einem nie gekannten Vater in deinem Roman stellst du dich in eine ganze Reihe von Autoren, die das Thema der Vatersuche auf unterschiedliche Weise behandeln. Mein Traum wäre ein Round-Table mit Autorinnen und Autoren der Edition Converso – Chaza Charafeddine, Miha Mazzini, Maja Gal Štromar –, die in ihren Büchern genau das tun, und natürlich mit deinem Vince Corso.
Die Suche nach dem Vater ist eines der großen Themen der Literatur aller Zeiten, im Westen auf ganz herausragende Weise: Auch die Odyssee beginnt mit einem Sohn, der sich einschifft. Aber wenn die Reise eines Odysseus eine der Buße ist ob des im Krieg vergossenen Bluts, so ist die des Telemach eine Sehnsuchtsreise. Auf der einen Seite ist da die Schuld, auf der anderen die Hoffnung. Wir leben ganz gewiss in Zeiten der Orientierungslosigkeit und des Waisenseins, ein mehr als aktuelles Thema. Doch oft sind wir Väter und Söhne, Mütter und Töchter zugleich oder nichts von beidem. Der Brief an einen Vater oder an einen Sohn ist auch ein Brief an uns selbst. Unser Hafen, zumindest vorläufig, erinnert in meinen Augen an den von Waisenkindern.
Mai 2022, Viterbo