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„In der Türkei können Frauen Ministerinnen sein, aber das schützt sie nicht davor, von ihren Ehemännern getötet zu werden“: Ayşegül Çelik über die Lage in der Türkei und ihr Leben zwischen zwei Meeren
Das Engagement der türkischen Autorin Ayşegül Çelik galt schon immer den Entrechteten und Unterdrückten. Im Interview sprach sie mit uns über die Lage der Frauen in der Türkei im Allgemeinen und der Jesidinnen im Besonderen, über Pflanzen, Tiere und Menschen auf der Halbinsel Datça, wo Mittelmeer und Ägäis zusammenfließen, über die Unentbehrlichkeit des Schreibens und ihre Botschaft an Politikerinnen und Politiker in Deutschland.
Du lebst mittlerweile auf einer Insel, Datça, unterscheidet sich dein Leben oder das Leben allgemein von dem auf dem Festland? Wie sieht es mit dem Fischbestand in den beiden Meeren in deinen Breitengraden aus?
Datça ist eine Halbinsel, und das Leben auf einer Halbinsel hat immer seine Besonderheiten. Bei Datça aber kommt noch die außergewöhnliche Lage hinzu, denn es handelt sich um einen schmalen kleinen Gebirgskamm zwischen der Ägäis und dem Mittelmeer. Eine ziemlich märchenhafte Lage, muss ich sagen. Geht man auf der Nordseite schwimmen, befindet man sich in der Ägäis, und zehn Kilometer weiter, auf der gegenüberliegenden Seite, schwimmt man im Mittelmeer. Sogar die Farben der beiden Meere unterscheiden sich. Während das Mittelmeer immer türkisfarben und warm ist, ist die Ägäis meist windig, bewegt und tief. An der Nordküste werden auch andere Dinge angebaut als an der Südküste. Auf der einen Seite gibt es köstliche Tomaten, auf der anderen Seite gedeiht das Blattgemüse wunderbar. Seit 1995 tauche ich gelegentlich in verschiedenen Buchten. Anfangs gab es dort vielerlei Arten von großen Fischen und in tieferen Regionen auch Fischschwärme. Im Laufe der Jahre sind es immer weniger geworden, nun sind sie ganz verschwunden. Einige Jahre lang gab es eine Feuerfisch-Invasion an den Küsten, und die Fischer fangen inzwischen auch Feuerfische. Das ist etwas, was mich sehr überrascht und beunruhigt. Dem Feuerfisch bin ich zum ersten Mal vor Jahren in Sharm el-Sheikh in Ägypten begegnet. Es handelt sich um eine geschützte Art, und es kommt wirklich überraschend, dass sie sich jetzt im Mittelmeer ausgebreitet hat. Datça hat trotzdem noch eine interessante Meeresfauna. An den Mittelmeerstränden gibt es winzige Fische, die sich den Menschen nähern. Im Winter gibt es an der Nordküste, also an der Ägäis, wo starke Stürme aufkommen, keinen oder nur geringen menschlichen Einfluss. Deshalb denke ich, dass die Artenvielfalt dort größer ist. Ich mag Datça sehr.
In Papierschiffchen in der Wüste (soeben erschienen) schilderst du auf wunderbare Weise den zähen Kampf um Selbstbehauptung, Widerstand und Selbstermächtigung besonders der jesidischen Frauen. Wie steht es um die Jesiden im Allgemeinen in der heutigen Türkei?
Die Lage der jesidischen Frauen in der Türkei und in vielen Teilen der Welt war und ist erbärmlich. Die Welt ist zu einer Welt der Starken geworden, und die Schwachen werden noch zusätzlich in Kasten eingeteilt. Wenn du eine Frau bist, ist es bereits schwierig, in dieser Welt zu leben, als jesidische Frau ist es noch schwieriger, und als vertriebene jesidische Frau, wenn du den Krieg erlebt hast, wenn du Kinder hast ... Das ließe sich immer weiter fortführen. In der Türkei leben mittlerweile nur noch sehr wenige Jesidinnen und Jesiden. Durch Kriege und Konflikte sahen sich jedoch viele jesidische Familien gezwungen, aus dem Iran, dem Irak und Syrien auszuwandern. Leider erleben sie auf dem Weg und in der Türkei Dinge, die sich niemand von uns hätte vorstellen können. Im Islam gibt es eine Figur namens „Yezit“, ähnlich dem „Judas“ im Christentum. Viele Menschen wissen nicht einmal, was Jesiden sind, und sie gehen einfach von der Ähnlichkeit dieser Wörter aus. Sie sind sich ihres Urteils sehr sicher, gerade weil sie nichts weiter wissen.
Und wie ist die Rolle der Frau in der heutigen Türkei zu beschreiben – gibt es ein starkes Stadt-Land-Gefälle? Wie sieht es mit Religionen aus?
Der Platz bzw. die Rolle der Frau in der Türkei ändert sich je nach Blickwinkel. In der Türkei können Frauen Ärztinnen, Mafiabosse und Ministerinnen sein, aber das schützt sie nicht davor, von ihren Ehemännern getötet oder gefoltert zu werden. Junge Frauen können an den Universitäten ihrer Wahl studieren, ob Ingenieurswesen oder Frühpädagogik, ob Tanz oder Literatur. Trotzdem werden sie in vielen Fällen körperlich misshandelt oder vergewaltigt. Hinter dieser Gewalt gegen Frauen steckt die Vorstellung, dass „der Mann dominant, überlegen, großartig ist und getan wird, was er sagt“. Ein Mann kann nicht akzeptieren, dass ein aus seiner Sicht unterlegenes Wesen die Scheidung oder Trennung beschließt, er kann nicht dulden, dass eine Frau Klage gegen ihn erhebt oder er sich einer Entscheidung beugen muss. Er will nicht, dass seine Frau ein Unternehmen gründet oder Geld verdient, vor allem will er nicht, dass sie mehr verdient als er. Obwohl es sehr erfolgreiche Frauen gibt, versuchen sie, sich nicht viel in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der männlichen Vorstellung nach sollten Frauen ein unterdrücktes, hilfloses und gehorsames Leben führen. Die Religion ist eines der Mittel, mit denen all das aufrechterhalten wird. Den Männern wird gesagt, dass sie überlegen sind und eine Frau höchstens ihre Konkubine sein kann. Auf der anderen Seite sollen Frauen alles befolgen, was ein Mann ihnen sagt, selbst wenn sie von ihm missbraucht werden. Frauen, die in diese Unterdrückung hineingeboren werden, leben und erziehen ihre Söhne nach demselben Verständnis. Die Folgen davon erleben wir heute.
In Deutschland wurde dieses Jahr Emine Sevgi Özdamar mit dem hochkarätigen Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Wurde/wird das in der türkischen Öffentlichkeit wahrgenommen?
Özdamar ist eine sehr gute Schriftstellerin. Literaturliebhaber haben sich über diese Nachricht gefreut, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie alle Leserinnen und Leser gleichermaßen erreicht hat. In der Türkei wird die Literatur nicht auf eine vergleichbare Weise verfolgt. Als ich zur Buchmesse in Frankfurt eingeladen war, bot sich mir die Gelegenheit, sowohl die Deutschen als auch die Türken zu beobachten, die sich für Literatur interessieren. Ich habe gesehen, dass Neuerscheinungen, Übersetzungen und aufstrebende Namen sehr genau und mit Interesse verfolgt werden. In der Türkei ist das anders, Literaturzeitschriften und Literaturnachrichten sind hier rar, und diese Art der Anteilnahme selten. Über Schriftstellerinnen und Schriftsteller wird häufiger wegen anderer Dinge berichtet, wenn es um Politik geht, um Gerichtsverfahren usw.
In Deutschland gibt es zahlreiche türkischstämmige Politikerinnen und Politiker in verschiedenen Ämtern und Parteien. Gibt es jemanden darunter, der/dem Du etwas Spezifisches mitteilen möchtest?
Ich denke, dass die Positionen, die sie innehaben, sehr wichtig sind in einer Zeit, in der die Politik abdriftet und es sehr schwer ist, sich zu äußern. Ich möchte mich bei allen für jeden Schritt bedanken, der die Menschen verbindet, statt sie zu trennen, und dazu beiträgt, Rechtsverletzungen zu beenden.
Was bedeutet das Schreiben für dich, für dein Leben?
Ich bin Einzelkind; Bücher, Notizbücher und Tiere waren schon immer meine engsten Freunde. Ich lese, seit ich lesen kann, und ich schreibe, seit ich schreiben kann. Ich habe immer ein paar Bücher dabei, und ein paar Notizblöcke, die sich langsam füllen. Ich weiß nicht, wie es wäre, ohne sie das Haus zu verlassen. Ich kann mir keine andere Art zu leben, keine andere Ayşegül vorstellen. Fast alles, was ich schreibe, entspringt dem Schmerz. Wenn die Menschen nur aufhörten, einander Schmerz zuzufügen, könnten wir uns bei einer Landpartie treffen, anstatt Bücher zu schreiben ... Solange es Schmerz auf der Erde gibt, müssen wir uns gegenseitig schultern und schreiben. Ich wüsste sonst nicht, wie überleben.
Zum Buch Papierschiffchen in der Wüste
Ayşegül Çelik ist Autorin mehrerer Erzählbände, Lyrikerin und Essayistin. Sie arbeitet für Film, TV und Radio und schreibt Opernlibretti. An der Universität Ankara lehrte sie Mythologie und Weltliteratur. Sie lebt auf der Halbinsel Datça, wo sie sich auch als Kunsthandwerkerin mit Glas-, Bronze- und Kupferarbeiten beschäftigt. 2008 Literaturförderpreis Notre Dame de Sion. 2010 Yunus-Nadi-Erzählpreis.