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„Wie sehr die Schöpfung an Ungerechtigkeit krankt“: Interview mit Giosuè Calaciura (Sizilien) über seinen heutigen Jesus-Roman „Ich, der Sohn"
In seinem Roman Ich, der Sohn (vor Kurzem erschienen) erzählt Giosuè Calaciura von einem jungen Mann namens Jesus im historischen Palästina: In einem Spiel mit biblischen Motiven entsteht die eindringliche, abenteuerliche Geschichte eines Versehrten und Suchenden. Eine besondere Rolle hat neben dem verschwundenen Vater des Protagonisten die schweigsame Mutter, Maria, vermutlich Opfer einer Vergewaltigung durch römische Soldaten. Wir haben mit Giosuè Calaciura gesprochen, etwa über den Dialog zwischen seinem Stoff und der heutigen Leserschaft, die mediterrane Erzähltradition, die Mutterfigur und das Verhältnis von Natur und Mensch.
In deinem „Bildungsroman“ erzählst du von einem sehr irdischen, uns auch heute nahbaren Jesus. Seine Suche nach dem verlorenen Vater nimmt uns mit, ihn, den Sohn (wieder)zuentdecken und uns zu hinterfragen. Welches Echo, welche Stimmen erwartest du dir, Erzähler aus dem Süden, von einem Dialog mit Lesenden aus dem deutschsprachigen Raum? In einer Gesellschaft, die Ritualität zu großen Teilen verloren hat, eine Ritualität, die du als universales Element von Meridionalität bezeichnest?
GC: Meine Erzählungen beleuchten Aspekte der Menschheit, in denen sich jeder wiedererkennen kann. Ich baue deshalb darauf, dass die Lesenden im deutschsprachigen Raum, gleich welcher Religion sie sich zugehörig – oder eben nicht zugehörig – fühlen, in meinem Jesus die Zweifel, die Wankelmütigkeit, die Hoffnungen, die Illusionen und Enttäuschungen wiedererkennen, wie sie uns allen gemein sind. Außerdem ist Jesus eine Figur, die aufgrund ihrer revolutionären Botschaft – den Letzten eine Stimme zu geben – aus meiner Sicht heute mehr denn je zu uns spricht, und das, politisch gesehen, auf unbequeme Weise. Ich glaube, dass wir eine solche Botschaft, auch abgesehen von ihren religiösen und rituellen Bedeutungsebenen, heute mehr brauchen denn je.
Das Evangelium – ein heiliger Text für die Gläubigen – hält ein außerordentliches Repertoire an Geschichten bereit. Genau wie die Ilias und die Odyssee, ohne dass wir dafür an den Olymp und seine Götter glauben müssten. Die große deutsche Literatur hat sich häufig mit biblischen Archetypen beschäftigt, man denke nur an Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“. Ich sehe mich eindeutig in bester Gesellschaft!
Mein Schreiben wird häufig als meridional bezeichnet. Was das angeht, sehe ich mich im Kontext der antiken Tradition mündlichen Erzählens, die Epik und Chronik verbindet. Ich weiß noch, wie im Palermo meiner Kindheit auf bestimmten Plätzen und Märkten die „cuntisti“ die neuesten Ereignisse besangen, wobei sie ihr Wissen, ihre Weisheit aus jahrhundertalter Tradition schöpften.
Die Figur der Maria, der Mutter schlechthin, verkörpert verschiedene und in sich widersprüchliche Modelle des Weiblichen. In deinem Roman ist sie ganz dem Stillschweigen überlassen, was sie streckenweise unsympathisch macht. In erster Linie trägt sie die Wunde der größten Gewalt, einer Vergewaltigung, mit sich. Warum hast du für sie dieses Schicksal gewählt? Was würdest du sagen zu einer Lesart, die den Kern des patriarchalen Systems in der Verhaltensweise des gesellschaftlichen Verleugnens ausmacht?
GC: Die Gewalt gegen eine Maria, fast noch ein Kind, ist in einigen apokryphen Evangelien erwähnt. Diesen Faden aufzunehmen, erschien mir als ein Weg, die „ewige“ Gewalt gegen die Fragilität zu erzählen, die in der Menschheitsgeschichte über einen viel zu langen Zeitraum hinweg von den Frauen repräsentiert wurde. Letztlich ist es das immergleiche Kapitel der großen Menschheitserzählung von Übermacht und Gewalt. In meinem Roman ist Maria die Wahrerin des Geheimnisses der Geburt, das einzige wirkliche Wunder, das wir kennen, ein höchst menschliches Wunder, wie jedes Geschöpf es erfährt, auch im Zweifel oder in der Gewissheit über die Abwesenheit eines Gottes.
Die Natur in ihrer Unerbittlichkeit ist in dieser Jesus-Geschichte mächtiger als jeder Schöpfergott. Es ist eine auch vom Menschen geschaffene Natur. Man könnte die Geschichte als eine auf Holz „gebaute“ beschreiben: Wer Holz bearbeitet, ist gezwungen, in sich hineinzusehen, mit der Welt ins Reine zu kommen, die rauen Stellen seines Herzens zu glätten. Willst du uns mehr erzählen von deiner persönlichen Beziehung zum Holz und seinem „Bezähmer“?
GC: Josef war Zimmermann, und mein Jesus ergreift den Beruf des Vaters. Es war unvermeidlich, dass das Holz in diesem Roman viel Raum und Aufmerksamkeit erhält. Aber Holz war auch in meinem Leben sehr präsent: Mein Vater, von Beruf Journalist, liebte die Arbeit damit. Das Haus meiner Kindheit war voller Möbelstücke, die er geschreinert hatte. Eigentlich bin ich in einer Schreinerei aufgewachsen. Und vielleicht bin ich, ohne es zu merken, über die notwendigerweise skrupulöse Holzarbeit zu einem strengen Umgang mit den Wörtern, der Sprache erzogen worden. Denn beide, Holz und Sprache, verlangen nach Präzision und Sorgfalt. Mein Bruder Alessio, vor wenigen Monaten verstorben, hat aus dieser Leidenschaft unseres Vaters seinen Beruf gemacht, er war ein exzellenter Ebenholzschreiner. Und nicht zufällig hat er sich in seinen letzten Jahren seinerseits dem Schreiben zugewandt.
Das Holz ist bei uns also tatsächlich eine Familienangelegenheit, und viele der Erinnerungen, die mir besonders nahegehen, sind in meinem Roman zu Jesus‘ Erinnerungen geworden.
Was die Natur angeht: Ja, sie spielt eine zentrale Rolle in meinem Roman. Mein Jesus lauscht ihr und wird mit ihr konfrontiert, teils mit ihren schönen, lieblichen Seiten, oft mit ihrer Grausamkeit. Auf diese Weise erahnt er, wie sehr die Schöpfung an Ungerechtigkeit krankt. Ich bin der Ansicht, dass menschliche Ungerechtigkeit und Klimakatastrophe zum Teil ein und dasselbe Problem darstellen. Die Menschheit, erniedrigt und ihrer Würde beraubt, zum Konsuminstrument verkommen, Diener der einzigen und weltweiten Religion des Geldes, entdeckt urplötzlich, dass das, was das wohnliche Haus der Natur war, längst in seinem Fundament korrodiert und brüchig geworden ist.
Giosuè Calaciura, geb. 1960 in Palermo, Journalist (unter anderem für Rai 3), hat auch als Koch gearbeitet, und ist mehrfach preisgekrönter Schriftsteller (etwa 2020 Prix Méditerranée étranger. „Auf den historischen Märkten in Palermo wurde ich mir der Dringlichkeit bewusst, einer Menschheit, die kein Gehör findet, als Erzähler eine Stimme zu geben.“ Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Auf Deutsch liegt bereits vor: Die Kinder des Borgo Vecchio (Aufbau).
Der Roman Ich, der Sohn ist Teil des EU-kofinanzierten Projektes "Grenzenloses Mittelmeer - ein vielsprachig gewobener Teppich"